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Themen der Zeit

    TrendForschung

    Von Dietmar Fritze

    Gegenwärtig werden auch allmählich dem Blindesten sichtbar die Problematiken des Sozialabbaus in unserer Gesellschaft. Man durchleuchte kritisch jene täglichen Rechtfertigungen, die den neuesten Sozialdarwinismus hoffähig machen: Die Investoren dürften nicht abgeschreckt werden durch zu hohe Personal-Kosten, eine übertriebene "Anspruchshaltung" der Arbeitnehmer (wer NIMMT eigentlich die Arbeit?) nötigt angeblich die Firmeneigner zur Verlagerung ins billigere Ausland, die Verlängerung der Wochen- (und Lebens-) Arbeitszeit hingegen - sie schaffe zusätzliche Arbeitsplätze - selbst bei diesem letzten Argument also, bei dem es rein rechnerisch schon unlogisch wird, schlucken Arbeits-Lämmer alles. Sie haben sich einen Kanzler gewählt, der behauptet, vehement gegen faule Arbeitslose vorgehen zu müssen - der aber seinerseits eine notwendige Offenlegung von absurd hohen Managergehältern oder aus verschiedensten Quellen sich summierenden Abgeordneten-Bezügen taktisch ignorant hinauszögert - bis zum Sankt Nimmerleinstag? Den arroganten Grundcharakter unserer Führungs-Riegen hat man wohl immer weniger nötig, wenigstens hinter einem Feigenblättchen zu verstecken . Ein gewisser stumpfsinniger Kadavergehorsam ist wohl für eine fehlende Gegenwehr verantwortlich, auch die Gedankenpolizei des "positiven Denkens", die als Managementberatung bald in jede größere Firma gesickert ist, bewirkt wohl allmählich das, was Gehirnwäsche zuverlässig leisten soll. Trend ist also, soziale Sicherheit, Gesundheit und Bildung als Gemeinkosten soweit wie irgend möglich zu minimieren - und als legitime Anspruchshaltung zu diffamieren. Es wird zunehmend schwierig, sich aus der allgemeinen Selbstverachtung und Unterwürfigkeit herauszuhalten. "Im Vaterland der Arbeit, in Deutschland," schreibt der Gesellschaftskritiker LOHOFF in seinem Buch DEAD MAN WORKING, auf AUSCHWITZ verweisend, "musste es ja so kommen, dass Menschen massenhaft gezwungen wurden, sich zu Tode zu schuften." - es ist zu hoffen, dass wir heutzutage wieder Sinnvolles in dem zunehmend wieder durch Inhumanitäten verminten Feld der Arbeit zu entdecken vermögen, dass aber andererseits die Mechanismen sinnlosen und höhnischen Antreibens häufiger öffentlich durchschaut und gebrandmarkt werden ...

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    In Dir

    Von Frauke S. Ganswind

    In Dir

    ‚Glück,’ flüsterte ich leise.

    Fragte erst ‚Wo?’

    dann ‚Wann?’

    dann ‚Wie?’

    Immer lauter.

    Alles wollte ich wissen,

    Nichts gab es zu entdecken.

    Die Stimme schrie: „Hier“

    „In Dir!“

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Paranoia und Krieg

Von Dr. Olaf Kaltenborn, Bochum

Es gibt diese Darstellung, auf der eine überbevölkerte Weltkugel zu sehen ist, an deren Rundungen Tausende von Menschen ins Rutschen kommen und schließlich ins Nichts abstürzen. Viele versuchen sich noch irgendwo festzuklammern. Aber es hilft nichts, sie werden vom Sog der anderen schließlich mit in die Tiefe gerissen.

Und es gibt den Begriff der Krisis, in der griechischen Antike Ausdruck für den Verlauf einer Krankheit, die auf des Messers Schneide steht. Die Krise beinhaltet beide Möglichkeiten: Den Wandel zum Besseren oder zum vollends Schlechteren. Sie ist ein Zustand des Zwischen, eines Noch nicht und Nicht mehr. Die Krisis ist der Zentralbegriff für Schwellenzustände schlechthin. Er markiert ein tiefes Unwohlsein, den Verlust von Grund und Begründung, das Abgleiten alter Werte an neuen Tatbeständen. Die Angst vor der Krise selbst kann sogar krank machen, wie auch die Angst vor der eigenen Courage zögerlich machen kann.

Entscheidend ist: In Zeiten der Krise scheinen die Maßstäbe von Vernunft auf merkwürdige Weise aufgehoben. Denn der Zustand der Schwellenhaftigkeit, des Übergangs in ein Neues, Ungewisses entzieht sich der Normalisierung und Einordnung durch Maßstäbe der Vernunft.

Die Krise ist schon vorbei!

So verhält es sich zur Zeit mit dem drohenden Irakkrieg. Die Maßstäbe des Internationalen Recht und die Institutionen, die zu seiner Umsetzung durch die Völkergemeinschaft legitimiert sind, versagen vor dem erklärten Willen einer Partei, diesen Krieg um jeden Preis führen zu wollen. Sie versagen in einer Situation, für die sie eigentlich ursprünglich nach dem zweiten Weltkrieg geschaffen worden waren: Die Verhinderung von kriegerischen Auseinandersetzung durch die Möglichkeit des Dialogs und der Diplomatie.

Mit Blick auf die augenblickliche Vorkriegssituation sind wir jedoch schon über den Zustand der Krise hinaus: Zu klein ist die Chance, dass die USA ihre Truppen am Golf jetzt wieder abziehen werden, auch wenn weiterhin keine stichhaltigen Beweise für die Existenz von Massenvernichtungswaffen im Irak beigebracht werden können. Die amerikanische Regierung baut auf die normative Kraft des Faktischen, die eine Umkehr zu einem bestimmten Zeitpunkt unmöglich macht.

Um weiterhin von einer Krise sprechen zu können, müsste dagegen noch eine realistische Chance zur Umkehr bestehen. Die ist nach Lage der Dinge nicht mehr gegeben, und war vermutlich nach dem 11. September 2001 und Bushs Verdikt von der "Achse des Bösen" nicht gegeben. Die jetzt beschworene Krise ist also keine Krise mehr, sondern schon ein Vorkrieg. Was viele bisher ahnten, verdichtet sich nun zur Gewissheit: Ein Krieg war von vornherein geplant und seine Begründung findet sich jeweils in fundamentalistischen Grundhaltungen der Administrationen diesseits und jenseits des Atlantiks. Besonders die Kreuzzugsrhetorik jenseits des Atlantiks machte Beobachter von Vornherein sehr nachdenklich. Klang in ihr doch eine Unversöhnlichkeit an, die in krassem Gegensatz zu stehen schien zu zentralen Botschaften des Christentums z.B der Bergpredigt. Die jüngsten Äußerungen des Papstes machen vor allem eines deutlich: Die kriegführenden Parteien dürfen sich bei der Begründung ihres Handelns zumindest nicht auf die Botschaft des Neuen Testaments berufen, was vor allem den Pietisten in der amerikanischen Regierung zu denken geben sollte. Mehr noch: Der greise Johannes Paul II. hat in seltener Eindeutigkeit einen Angriffskrieg (ein solcher wäre ein Krieg gegen den Irak völkerrechtlich) verurteilt. Dass man andererseits von Saddam Hussein nicht anderes erwarten durfte, als dass er auf diesen Fehdehandschuh mit martialischer Rhetorik parieren würde, muss an dieser Stelle nicht mehr ausdrücklich betont werden.

Fundamentalistische Begründungsmuster auf beiden Seiten!

Wo fundamentalistische Begründungsmuster zur Legitimation bemüht werden, hat die Vernunft längst abgedankt. Vernunft, wohlverstanden als das Vermögen aller Beteiligten, in Krisensituationen tragfähige Kompromisslinien auszuloten, das Geschäft der Diplomatie also.

Sollte sich nach einem wahrscheinlichen Krieg, wenn erst die Toten gezählt sind und die Kosten abgerechnet, wieder so etwas wie Vernunft einstellen, dann könnte es sich erweisen, dass George Bush und seinen Mitstreitern nur ein klassischer Pyrrhussieg gelungen ist, selbst wenn sie es schaffen, den Tyrannen aus Bagdad zu vertreiben. Warum? Nicht allein deshalb, weil die Geißel des Terrorismus dann erst recht die westliche Welt ergreifen wird. Auch nicht deshalb, weil der Nahe Osten vermutlich in ein politisches Chaos stürzen wird, das die Europäer vitaler betrifft als die Amerikaner. Auch nicht deshalb, weil das Vertrauensverhältnis zwischen der westlichen und der islamischen Welt auf Jahre nachhaltig gestört sein wird.

Der späte Sieg des Saddam Hussein, sein spätes Vermächtnis wird in Verbindung mit den Anschlägen des 11. September 2001 darin bestehen, dass fundamentalistische Grundhaltungen und der partielle Ausnahmezustand als Maßstäbe politischen Handelns im Westen wieder salonfähig geworden sein werden (auch wenn Hussein gar kein Fundamentalist ist). Wir erinnern uns z.B. daran, wie sehr die deutsche Rechtskultur bis auf den heutigen Tag durch den RAF-Terrorismus beeinflusst worden ist und in dessen Gefolge Bürger- und Grundrechte eingeschränkt wurden.

Paranoia als bestimmende Grundhaltung des Westens!

Sofern die Terroristen des 11. September und spätere etwas Anderes im Schilde führten als eine nackte Gewaltdemonstration (wofür Einiges spricht), so ist es eine Veränderung der demokratischen Gesellschaften von innen bzw. deren Zersetzung. Doch die eigentliche Dreckarbeit der Veränderung überlassen sie jetzt den demokratisch gewählten Regierungen selbst. Eine perfide, sehr wirkungsvolle Strategie, die begünstigt wird durch eine paranoide Grundhaltung, die sich ausgehend von Nordamerika inzwischen in der gesamten westlichen Welt wie ein Virus verbreitet hat. Der eigentliche Anschlag auf die Freiheit und die westliche Werteordnung wird nicht von blutrünstigen Terroristen vollzogen, sondern von den westlichen Regierungen selbst, denen der Terrorismus als Vorwand gerade recht kommt, die so genannte Innere Sicherheit radikal zu verschärfen. Wenn sich die paranoide Grundhaltung des Westens weiter verschärft, wird der Terrorismus (der auf Umsturz der Werteordnung zielt) vielleicht sogar bald ganz überflüssig, weil das Ziel der Zersetzung auch so gelingt. Schon sind deutliche Anzeichen für einen solchen fundamentalen Wandel zu erkennen: Allen voran die USA betreiben seit dem 11. September eine bisher nicht für möglich gehaltenen Radikalisierung demokratischer Machtausübung im Inneren und Äußeren. Doch jedes Menschen- und Grundrecht, das jetzt im Westen mit Blick auf die Drohung des Terrorismus mit Füßen getreten wird, ist ein Sieg der radikalen Kräfte, die auf den Umsturz unserer Werteordnung zielen. Zur Legitimierung dieser Barbarisierung von Demokratie schrecken vor allem die Amerikaner nicht einmal vor der Konstruktion absurder Zusammenhänge zurück, wie dem zwischen Al Quaida und Saddams Regime.

Die neuen Cäsaren des Westens!

Man sollte sich keine Illusionen machen und auch nicht der psychologischen Kriegsführung der Amerikaner und ihrer journalistischen Vasallen erliegen: Dieser Krieg zielt nicht eigentlich nach außen, sondern nach Innen. Mit modernen Cäsaren wie George W. Bush und dem Italiener Silvio Berlusconi bricht eine neue Ära des Fundamentalismus auch im Westen an. Ein Fundamentalismus der die Gier nach Geld und Expansion wieder salonfähig macht, indem er sich religiöser oder postreligiöser Begründungsmuster bedient. Menschen- und Grundrechte gelten unter solchen Umständen nicht mehr viel. Man fühlt sich erinnert an die glorreiche Zeit des Römischen Reiches unter Kaiser Augustus, der Privatinteresse und öffentliches Interesse ebenfalls auf das vorteilhafteste zu verbinden verstand und damit die Republik endgültig ruinierte. Das Beispiel Berlusconi zeigt schlagend, wie weit ein Staatschef sich einen demokratischen Staat zur Beute machen kann, indem er Gesetze nach Belieben verändert, die ihm missliebig sind. Anders hat es Kaiser Augustus auch nicht getan, wohl aber etwas geschickter und diplomatischer, weil er auch noch die Gerichtsbarkeit im Griff hatte.

Das Beispiel Bush und Teilen seiner Administration zeigt etwas Ähnliches. Auch hier die engste Verbindung zwischen privaten und öffentlichen Interessen durch Führungspositionen in der Ölindustrie. Das etwas platte Gerede, der bevorstehende Krieg würde "nur" um Öl geführt, hat sicherlich hier seinen wahren Kern.

Schwächung der Werte!

Bush wie Berlusconi sind auch eine starke öffentliche Meinung nicht geheuer. Wegen ihrer intensiven Verstrickungen mit der Privatwirtschaften fürchten sie öffentliche Kontrolle wie der Teufel das Weihwasser. Auch hier eine Parallele zu Augustus, der Gefälligkeitsberichterstattung am meisten schätzte und mit Eigenlob (Res Gestae) nicht geizte.

Der Krieg wird kommen. Aber er wird die Werte des Westens, jene Werte, die in Revolutionen gegen Tyrannei und Willkür erstritten wurden, nicht stärken, sondern weiter schwächen. Einfach deshalb, weil sich jene, die ihn vom Westen aus führen, schon vorher allzu gemein gemacht haben mit Tyrannen. Im Westen wird er viele Menschen mutlos und ohnmächtig zurücklassen, im Irak Hunderttausende das Leben kosten. Vielleicht treten wir nach diesem Krieg endgültig ins Zeitalter der Depression ein. Weil sich dann einmal mehr gezeigt haben wird, wie wenig Veränderungen mit so viel Einsatz an Material und Menschenleben bewirkt werden konnten.

Kontakt: Dr. Olaf Kaltenborn
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Von einem, der auszog, den Anfang zu denken

Von Gregor Nottebom, Bochum

Liebe Sinnsuchende,

Haben Sie Lust auf spielerische Erkenntnistheorie? Viel Freude wünsche ich Ihnen bei den ersten zwei Teilen eines sechsteiligen Vortrags, den ich am 02. November 2002 auf dem 17. Kolloquium der Internationalen Gesellschaft Philosophischer Praxis gehalten habe. Die Teile III - VI können Sie per Email bei mir anfordern!

I - Die Angst vor dem Anfang.
II - Der erste Gedankenschritt und die Paradoxie des Lernens.
III - Denken als instinktartiges Tun.
IV - Die Umwendung des erfahrenden Bewußtseins auf sich selbst.
V - Anfangen und Denken.
VI - Der Anfang im denkenden Erkennen.

Teil I - Die Angst vor dem Anfang

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Philosophinnen, liebe Philosophen,

es ist nicht allzulange her, wie lange möchte ich lieber nicht verraten, als ich mich entschloß, endlich damit anzufangen, meinen Vortrag über den Anfang im denkenden Erkennen zu verfassen. Mit jenem heroischen Entschluß, endlich anzufangen, meine Gedanken über den Anfang so aufzuschreiben, daß vielleicht sogar jemand versteht, was ich da zu denken versuche, mit dem Entschluß anzufangen hatte ich natürlich nicht das Problem gelöst, wo bzw. wie denn anzufangen wäre. Im Gegenteil: mit diesem Entschluß hatte ich mir mal wieder ein Problem erschaffen. Eine mir sehr bekannte und oft gemachte Erfahrung - wenn man in Bereichen, in denen man offensichtlich nichts oder bestenfalls wenig gelernt hat, von Erfahrung sprechen darf - eine uralte Erfahrung drohte, sich in bedrohlicher Weise erneut zu wiederholen. Viele haben diese Erfahrung auch schon gemacht - sie lautet: Die Phase zwischen dem Entschluß anzufangen und dem tatsächlichen Anfang ist die Schwerste! Mein Entschluß, über den Anfang im denkenden Erkennen schreiben zu wollen, hat mich mitten in die Paradoxie des Anfangens geworfen. Doch von Paradoxien möchte ich erst später sprechen, schließlich habe ich ja noch gar nicht angefangen ...

Mit dem Entschluß tatsächlich anzufangen, wurde die Frage nach dem ‚Wie' mal wieder zur persönlichen Entscheidungsschlacht, ja zur Existenzfrage. Kennen Sie die Angst vor dem unbeschriebenen ersten Blatt? Ein leeres Blatt, gerade wenn es das erste einer Reihe von Blättern ist, die ihm für die Beschriftung folgen sollen, ein leeres Blatt kann zu einem nicht zu unterschätzenden Angstgegner werden! Die Bestimmung leerer Blätter ist es schließlich, beschrieben zu werden; wer sich dieser Bestimmung widersetzt, macht sich das leere Blatt Papier zum Feind. Leere Blätter mögen keine Reinheit, auch und gerade nicht wenn es um ‚reines Denken' - wie in meinem Vortrag über den Anfang im denkenden Erkennen - gehen soll. Wer nicht die Absicht hat, es zu beschreiben sollte das leere Blatt am besten gar nicht erst auf den Schreibtisch legen. Das unbeschriebene Blatt Papier - wir kannten uns schon von früheren Begegnungen - guckte mich nach meinem Entschluß endlich anzufangen, dem aber bisher nicht die Spur einer Tat folgte, böse an:

:-(

Gerne wäre ich diesem Blick ausgewichen und mit meinem Hund spazierengegangen, aber ich wollte ja anfangen, meinen Vortrag über den Anfang im denkenden Erkennen zu schreiben.

Nachdem ich die Wohnung inclusive aller Fenster - auch der Flurfenster - geputzt, endlich mal den Hund gebürstet, lang zurückliegende Briefe beantwortet und Wäsche gewaschen hatte, entschloß ich mich, mir den Entschluß mit meinem Vortrag über den Anfang anzufangen, ....

... gut bis morgen zu merken - und doch lieber erstmal mit dem Hund rauszugehen.

Doch der leichtsinnige Entschluß, meinen Verstand zu gebrauchen und meinen Vortrag über den Anfang im denkenden Erkennen zu schreiben, holte mich beim Spazierengehen ein: " ... im Grunde hast Du ja schon angefangen ...", versuchte ich mich zu rechtfertigen. "Du hast immerhin ein weißes Blatt Papier auf den Schreibtisch gelegt ..." - dachte ich und trat in einen Hundehaufen. War das ein Himmelszeichen? Ich faßte Mut und dachte weiter: ein leeres Blatt ist - Hegelisch gewendet - ja nicht Nichts. Es ist immerhin ein Blatt mit Nichts drauf.

( )

Das Sein des Blattes bleibt, gleich, ob es leer oder beschriftet ist.

- Wenn ich das leere Blatt beschreibe, verschwindet dann sein Nichts oder ist es noch da und hat sich hinter der Beschriftung versteckt?

(Nichts)

Mir schwindelte: der Versuch, dem Blatt die Schuld für meine Anfangsangst zu geben, schien zu scheitern, ich hatte immer noch nichts geschrieben, außerdem wollte ich ja über das Denken schreiben und nicht spazierengehen und über die Phänomenologie des unbeschriebenen Blattes nachdenken. Doch das leere Blatt ging mir nicht mehr aus dem Kopf:

- Verschwinden kann nur, was vorher vorhanden war. Vorhanden ist ein Blatt mit Nichts drauf. Beschrifte ich das Blatt, verschwindet nicht das Blatt, sondern sein Nichts. Dieses Nichts soll verschwinden, denn das Blatt soll soll ja schließlich beschrieben werden. Daß dieses Nichts verschwindet, daß dieses Blatt von mir beschrieben wird, ist die Bestimmung des Blattes, sein Sollen. Ich bin der Gott des leeren Blattes. Nicht nur das leere Blatt, auch das darauf befindliche - obgleich völlig unsichtbare Nichts, ...

( )

... warteten also gemeinsam darauf, durch mich ihrer Bestimmung zugeführt zu werden. Kein Wunder, daß ein solcher Leistungsdruck - immerhin zwei - das Blatt und sein Nichts - ...

( ) + Nichts = (Nichts)

.... gegen einen (mich) - erstmal Abstand und Besinnung verlangt. - Immerhin, tröstete ich mich, während ich für meinen Hund ein Stöckchen warf - immerhin habe ich die erste Voraussetzung geschaffen, das unbeschriebene Blatt seiner Bestimmung zuzuführen. Ich habe es rausgelegt, um es in kürze, mit meiner unendlichen Weisheit und Schreibkunst den allerhöchsten Geistessphären entgegenzutragen. - Und - schloß ich logisch - wäre das Blatt nicht leer, wären wir drei, das Blatt, sein Nichts und ich ohne Bestimmung. Ich ohne die Bestimmung, endlich anzufangen, etwas über den Anfang im denkenden Erkennen zu schreiben, das Blatt ohne die Bestimmung, das Nichts, das sich durch seine Leere ausdrückt zu negieren und sich beschreiben zu lassen. Macht ein Leben ohne leere Blätter, überhaupt einen Sinn?

Jeder, der einmal versucht hat, kreativ zu sein oder wenigstens etwas Neues zu lernen hat diese Erfahrung wohl schon gemacht: zwischen dem Entschluß anzufangen und dem tatsächlichen Anfang liegen Welten, obwohl Entschluß und Anfang zugleich unendlich nah zusammen zu sein scheinen.

Teil II - Der erste Gedankenschritt und die Paradoxie des Lernens

Nachdem ich Ihnen nun ausführlich über meinen Hundespaziergang und meine Phobie vor dem unbeschriebenen Blatt und der Phase vor dem Anfang seiner Beschriftung berichtet habe, werde ich nun den ersten Gedankenschritt wagen.

Der erste Schritt, der Anfang der Befriedigung eines wie auch immer gearteten Interesses, ist der Schwerste. Die Ursachen für diese Schwierigkeit sind prinzipieller Natur, die die Menschheit mindestens seit der Antike beschäftigen. Die Befriedigung unseren Interesses, die Befriedigung des 'Erkenntnisinteresses' dürfte dagegen nicht so schwer sein - denn schließlich wissen wir ja, daß wir denken, was wir denken und wie wir denken. Es dürfte also leicht sein, zu beschreiben und zu erkennen, was denken ist! - Oder?

Wir wollen das Denken denken und zwar auf eine Weise, die sich nicht auf Voraussetzungen, die nicht auf einem Vorwissen beruft. Wir müssen nicht nur nichts wissen, wir dürfen es gar nicht! Wir sind von aller Wissenslast befreit! Sehen wir zu, wie unser Verstand mit dieser Freiheit umgeht.

Wir wollen das Denken denken! Wir brauchen unser Gehirn also nicht mit Wissen zu belasten, das nicht im Denken selbst liegt. Umgekehrt steht uns dieses Wissen auch nicht für die dem Denken so eigentümliche 'Flucht vor sich selbst' zur Verfügung. Was ist und - vor allem - wohin führt ein Denken, das nur sich selbst zum Thema hat? Wie fängt man an, solch ein Denken zu denken? Sollte man es überhaupt tun?

Die Emanzipation von allem positiven Wissen, das uns Medien, Werbung, Psychologie, Hirnforschung, Biologie, Medizin, Kirche, Familie ... zur Verfügung stellen, diese Emanzipation erzeugt - viele Philosophen können es bestätigen - Einsamkeit, Armut, Verwirrtheit. Sich, wie Kant es zu 'besseren Zeiten' einklagte, seines Verstandes ohne Hilfe eines anderen zu bedienen, mündig zu sein, ist - heute mehr als damals - mit extremen gesellschaftlichen Risiken belastet. Konfrontieren wir das Medienzeitalter mit dem Aufklärungszeitalters, kann unsere Informationsgesellschaft als geistige Risikogesellschaft erkannt werden. - Aber ich schweife ab; oder war es mein Denken, das abschweifte? Apropos 'Flucht': beginnen wir also endlich mit dem Anfang!

Dadurch, daß wir also für die Bestimmung des Denkens nur das Denken zur Verfügung haben, zeigt sich gerade am Anfang eine grundsätzliche Frage, die bereits in Platons Menon formuliert wird. - Innerhalb des Versuches zu bestimmen, was denn Tugend sei, fragt Menon Sokrates: "Und auf welche Weise willst Du denn dasjenige suchen, Sokrates, wovon du überhaupt gar nicht weiß, was es ist?"(Menon 80 d) Lernen ist nur aus der Pespektive eines schon irgendwie Gewußten möglich. Das scheint bezüglich der Frage nach dem Denken des Denkens kein Problem zu sein.

Jeder weiß, oder glaubt zu wissen, daß er denkt. Aber, so kann man mit Hegel ergänzen, was bekannt ist, wird deshalb nicht unbedingt erkannt. Wir wissen, oder glauben zu wissen, daß wir denken, daß Denken ist. Das bedeutet aber nicht zugleich, daß wir dadurch bereits erkannt haben, was Denken ist. Platon versucht dieses Problem - erstmals im Menon und dort im Hinblick auf die Tugend - durch seine Anamnesislehre zu lösen: Erkennen von etwas ist das Wiedererinnern von etwas, was wir bereits wußten, was uns aber nicht präsent ist. - Gilt für unser selbstbewußtes Denken das gleiche wie für Platons Tugend? Haben wir also nur vergessen, was Denken ist? Sollten wir etwa gar kein Bewußtsein von uns als denkende Wesen haben? Es wäre zu leicht, Descartes und seine Verachtung des Tiergeistes als einer nichtdenkenden seelenlosen Maschine an dieser Stelle abzustrafen oder - alternativ - , im Zuge der Negation des Tierseins des Menschen uns allen das Menschsein abzusprechen. Aber auch das ist ein anderes Thema. Wenden wir uns also - den Verächter des Leibes hochmütig ignorierend - unserem eigenen Denken zu.

Die Selbstbeobachtung macht es offenkundig: die ersten Gedankenschritte scheinen wohl eher eine Reihe von Gedankenstolperern geworden zu sein. Nach dem Denken fragen können wir nur, wenn wir es schon in irgendeiner Weise kennen. Was man gar nicht kennt, danach kann man auch nicht suchen. Umgekehrt gilt aber auch: was man kennt, danach braucht man nicht zu suchen. - Da offensichtlich kein Weg aus diesem Dilemma führt, könnte ich also meinen Vortrag über den Anfang im denkenden Erkennen schließen: - wenn da nicht eine kleine Hoffnung bliebe: der Entschluß das Denken zu denken hat uns zwar in eine Paradoxie geführt. Was haben wir aber getan, um diese Paradoxie zu erkennen? Wir haben gedacht! Unser erstes Stolpern hat also zumindest die Erfahrung eingebracht, daß wir denken, die zu dem Schluß führte, daß der Versuch, das Denken selbst zu denken offenbar paradox ist. > Ich denke, also stolpere ich < darf von nun an jeder der mag Descartes selbstbewußt entgegenschmettern.

Vielleicht aber sind wir nur gestolpert, weil wir noch immer keine Halbgötter oder wenigstens Philosophenkönige, transzendentale Subjekte, absolute Geister oder Übermenschen geworden sind, vielleicht sind wir nur gestolpert, weil wir noch nicht die richtige ‚Denktechnik' gefunden haben. Vielleicht ist es ja mit dem ersten Gedankenschritt wie mit dem ersten Tanzschritt: wir wollen tanzen lernen, und machen zuerst die Erfahrung, daß bereits der aufrechte Gang ein Problem darstellt. Bis zu dem ersten Versuch, tanzen zu lernen, war das Gehen kein Problem. Wir sind doch bisher immer gegangen, ohne zu stolpern. Es war bisher z.B nie ein Problem, vom Schreibtisch aufzustehen und zum Kühlschrank zu gehen, um sich eine Flasche Bier herauszuholen. Daß das Gehen schwierig werden kann, wenn man zu oft Bier aus dem Kühlschrank holt statt zu arbeiten ist ein anderes Thema. Offensichtlich ist das Gehen, das stattfindet um ein Ziel (Flasche Bier) zu erreichen weniger problematisch, als das Gehen, das bewußt stattfinden soll. Stolpern tut man zumeist erst dann, wenn man darüber nachdenkt, wie man geht. Führt nun das bewußte Gehen/Denken zum stolpern oder stolpern wir nur, weil wir bewußt gehen/denken wollten?

Ähnlich wie wir auch nicht dadurch gehen, daß wir denken, linkes Bein, rechtes Bein, linkes Bein ... in ähnlicher Weise wird auch das Denken, in dem Moment indem es sich vollzieht, nicht eigens als Tätigkeit thematisiert. Denken findet statt. Denken richtet sich auf bestimmte Denkinhalte. Das Stattfinden des Denkens gehört nicht zu den üblichen Denkinhalten des Denkens. Denken wir also das Denken selbst, machen wir eine Art Gedankenexperiment: Denken ist - wie Gehen - intentional; es ist in seiner Tätigkeit auf ein Ziel gerichtet, ohne daß diese Tätigkeit oder gar deren Intention eigens thematisiert würde. Wir denken zumeist darüber nach, wo uns unsere Beine hintragen sollen, nicht aber, wie oder warum sie es tun. Unsere Gedanken richten sich zunächst auf das Ziel, nicht aber auf die Tätigkeit, das Denken oder das Gehen, das stattfindet, um dieses Ziel zu erreichen. Das Gehen ist in der Regel, es sei denn wir gehen spazieren oder versuchen zu tanzen, Mittel für einen Zweck. Man geht nicht um zu gehen, sondern um durch gehen ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Das Gleiche gilt für das Denken. Unsere Gedanken richten sich üblicherweise nicht auf das Denken selbst, sondern auf bestimmte Denkinhalte. Wir denken nicht an das Denken sondern an etwas, was außerhalb des Denkens gedacht werden soll. Unser Bewußtsein richtet sich auf Ziele, Intentionen, Inhalte unseres Gehens und Denkens. Ist nun das Denken selbst Intention unseres Denkens sind wir in einer für uns unnatürlichen Situation.

Um das Denken selbst zu bestimmen, ist es wenig hilfreich, all die Dinge, die durch denken erkannt werden können, zu beschreiben. So bunt und vielfältig wie das Leben selbst scheinen die Weisen unseres Erkennens zu sein. Eine Vielzahl von Arten des Erkennens trifft auf eine unendliche Mannigfaltigkeit von Dingen, die erkannt werden können. Unser Erkenntnisinteresse richtet sich heute auf das Denken selbst. Das Denken ist der alleinige Inhalt unserer Betrachtung. Alle anderen Inhalte des Denkens werden einer radikalen Geltungsepoché unterworfen.

Weder die Mannigfaltigkeit von Erkenntnisgegenständen des Denkens noch die verschiedenen Formen des Erkennens wie Gefühl, Glauben, Anschauung, oder Vorstellung sollen uns nun beschäftigen. Der Inhalt unseres Denkens ist die Beziehung von Denken und Erkennen. Oder umgekehrt: Unser Erkenntnisinteresse gilt nun also dem Denken selbst. Wir wollen erkennen, was Denken ist. Wir wissen zwar, daß Denken ist. Wir wissen noch nicht, was Denken ist, wir haben noch nicht darüber nachgedacht, wir fangen erst an, zu erkennen, was Denken ist.

Das Denken in seiner Faktizität, die Tatsache, daß Denken ist, müssen wir voraussetzen, sonst könnten wir nicht über das Denken nachdenken. Denken ist. Die Denktätigkeit ist eine Seinsgewißheit. Was wir nicht voraussetzen können, ist die Erkenntnis, wie diese Faktizität des Denkens ihrerseits gedacht werden kann. Wir haben eben erst angefangen, das Denken zu denken. Ob und wie Denken in seiner Faktizität bestimmt werden kann, können wir noch nicht wissen: Daß wir denken wissen wir. Über dieses Wissen denken wir in der Regel nicht nach. Denken ist zumeist auf bestimmte konkrete oder abstrakte Inhalte gerichtet. Wenn wir denken, denken wir ein konkretes oder abstraktes Etwas. Wenn wir nun das Denken selbst denken wollen, trifft nun unsere Denktätigkeit auf sich als konkretes oder abstraktes Etwas. Wenn wir das Denken selbst denken, machen wir eine Tätigkeit zu einem Erkenntnisobjekt. Das Faktum, daß wir denkend tätig sind ist uns eine Gewißheit. Der Vollzug der Denktätigkeit ist uns eine Seinsgewißheit. Doch gerade die Denktätigkeit als Seinsgewißheit, weiß nicht von sich selbst. Die Seinsgewißheit, daß wir denken, ist zumeist nicht Gegenstand des Denkens. Das Denken als bloße Tätigkeit ist sich in dem, was es tut, im Grunde fremd. Das Denken ist in seiner Tätigkeit auf ein konkretes oder abstraktes Etwas gerichtet, daß gerade dadurch gekennzeichnet ist, selbstständig zu sein, nicht in Beziehung zum Denken als Tätigkeit zu stehen.

Die Denktätigkeit ist zunächst sowohl das Objekt unseres Erkennens, wie der Vollzug des Erkennens. Das Faktum des Denkens als Tätigkeit, das Denken als Seinsgewißheit, der Satz: ‚Denken ist', ist ein Wissen, von dem wir nicht ständiges Bewußtsein haben. Die Faktizität des Denkens ist - wie gesagt - eine ungedachte Seinsgewißheit. - Aber ich hatte Sie ja gewarnt ...

Kontakt: Gregor Nottebom
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Vom Rumlaufen und Sitzenbleiben

Von Conrad Schwill, Rhön

Vielleicht war der Mann nicht ganz richtig im Kopf? Sein Haus lag mitten in der Stadt, aber selten ließ er sich blicken auf öffentlichem Gelände. Sich nicht in öffentliche Angelegenheiten zu mischen, in Dinge also, die jeden angingen, galt damals als Idiotie; die ausschließliche Sorge um das "Idios", das Eigene, Selbstbezügliche, wurde als degoutant empfunden. Doch nicht genug, daß der Mann sich dermaßen unbekümmert von seinen Mitbürgern abwandte. Schlimmer noch: man mußte bezweifeln, ob er überhaupt bemerkte, sich in Gesellschaft anderer Menschen zu befinden. Stets vergaß er, die Tür seines Hauses zu schließen, als gäbe es keine Diebe und Bettler in der Stadt. Gewiß waren jene auch schon eingedrungen. Aber das war lange her, denn viel gab es dort nicht zu holen; jedenfalls nichts, was Leute, die sich auf der Höhe der Zeit befanden, hätten gebrauchen können. Es war unvermeidlich, von der Straße aus durch die offene Haustür zu blicken. Und was man dort zu sehen bekam, war mehr als ärgerlich: Der Hausherr spazierte, abwechselnd mit auf dem Rücken verschränkten Armen oder wild in der Luft herumgestikulierend, im Laubgarten seines Innenhofes herum und sprach lautmit sich selbst. Dabei machte er einen höchst angeregten Eindruck. Ein starkes Stück! Die Abwesenheit etwaiger Gesprächspartner schien ihn eher zu beflügeln als zu hemmen. Der Mann konnte nur verrückt sein.

Irgendwann muß ein gelangweiltes Bürgersöhnchen der Hafer gestochen haben. Er ging hinein und hörte sich genauer an, was der seltsame Vogel zu erzählen hatte. Am nächsten Tag berichtete er seinen Freunden, wie unterhaltsam es gewesen war. Man kehrte zurück, und diesmal war man schon zu dritt. So entwickelte sich die Sache. Bald schlürfte ein beträchtlicher Pulk gutgekleideter junger Leute hinter dem einsamen Spaziergänger hinterher und lauschte verblüfft dem Selbstgespräch. Dann geschah etwas Außerordentliches: Es muß eine scharfe dialektische Wendung in den Gedanken des Selbsterregers gewesen sein. Jedenfalls machte er abrupt auf dem Absatz kehrt - und stieß mit dem Vordersten seiner Verfolger schmerzhaft zusammen. Er erwachte aus seiner Versunkenheit und fragte empört, welche Idioten sich seinen Gedankenpfaden in den Weg stellten. So kam man ins Gespräch. Der Hausherr änderte seine Gewohnheiten nicht, aber die Besucher paßten besser auf und bildeten gedankenschnell eine Gasse, sobald sich wieder eine dialektische Wendung ergab. Zur Belohnung für die Rücksichtnahme durften ab und zu Fragen gestellt werden.

Die meisten Städter blieben trotzdem draußen. Das Betreten des Hauses ließen sich die jungen Leute nicht mehr verbieten, aber die Alten und draußen Gebliebenen gaben den Kindern mitsamt dem alten Narren einen Namen, mit dem sich leben ließ: Sie nannten die abwegige Gesellschaft einfach Rumläufer, Peripatetiker! Damit war das Ärgernis hinreichend gekennzeichnet. Nutzlos, aber harmlos. Eine Schande zwar, daß die eigenen Sprößlinge da mitmachten, aber vielleicht besser noch als Unfug treiben in trostlosen Spelunken.

Damit hätte die unersprießliche Sache erledigt sein und von der nächsten Modewelle spurlos überspült werden können. Doch es kam anders. Die weithin berühmte Stadt war wenige Generationen später am Ende, ihre Mauern geschleift und der Name Athen nur noch eine wehmütige Erinnerung. Aber jene Gedankenschule, die sich da gebildet hatte, überdauerte Jahrhunderte. Ihre Gründerväter, Plato und Aristoteles, kennt heute jedes Kind. Doch wie hießen jene Heroen, die Sparta vom Erdboden vertilgt und die Persische Flotte auf den Grund des Meeres versenkt hatten? - So harmlos waren die Rumläufer offenbar nicht gewesen. Inzwischen tragen die Herren eine andere Bezeichnung: Jetzt nennt man sie Philosophen, Freunde der Weisheit. Der alte, weniger ehrenhafte Name jedoch hätte es verdient, erhalten zu bleiben, denn er berührt trotz seiner Despektierlichkeit den Kern der Sache.

Der Mensch, das Tier, das verstehen will, steckt in einer Welt, die dem Wunsch nach Erkenntnis ziemlich gleichgültig gegenübersteht. Die ontologische Selbstverständlichkeit, mit der alles, was der Fall ist, eintritt und wieder vergeht, ohne auf den um Erkenntnis ringenden Menschen zu warten, reizt jedes nachdenkliche Subjekt bis aufs Blut. Die Dinge derart gleichgültig über seinen Kopf hinweggleiten zu fühlen, kann einen nach oben offenen Geist nicht unberührt lassen. Will er auch nur den geringsten Zipfel von Wahrheit zu fassen kriegen, muß er sich selbst in Bewegung setzen. Das ist das erste, was er begreift. Also macht er sich auf die Socken. Alle tun das. Darin haben Plato und Aristoteles sich von niemandem unterschieden. Aber während andere den schrecklichen Fehler gemacht haben, sich zielgerichtet, also teleologisch fortzubewegen, sind die beiden Sonderlinge einfach nur rumgelaufen. Im Kreise obendrein. Die Zielstrebigen hielten es immer für eine Tugend zu wissen, woher sie kamen und wohin sie wollten. Die Kreisbewegung erschien ihnen als Gipfel der Nutzlosigkeit, reine Verschwendung. Deshalb blickten sie mit Verachtung in den Hof, wo man nur vor sich hinkreiselte.

Die Rumläufer jedoch entdeckten den unschätzbaren Vorteil der Wiederholung, die stete Rückkehr an den Anfang, den Reiz der Wiederkehr. Das Geheimnis der kreiselnden Ziellosigkeit ist Außenstehenden schwer zu erklären. Soviel steht jedenfalls fest: Schon den einsamen Rumläufer überwältigte Erkenntnis so sehr, daß er den Mund nicht halten konnte. Den Hinzugeströmten erging es ebenso. Und als sie aneinander stießen, nahmen sie ein Gespräch auf, das unter den Bedürftigen bis heute andauert.

Die große Zahl allerdings pflegte weiter die Zielstrebigkeit an prästabilisierte Glücksorte. Die Geschwindigkeit der Fortbewegung wurde enorm gesteigert; synchron damit wuchs die mobile Bequemlichkeit. Technisch ist man gut beschäftigt und bleibt auf Trab. Angaben zum Ziel, an dem man hofft, zur Ruhe zu kommen, fehlen gänzlich. Statt dessen wird der Weg zum Ziel erkoren, und damit unterwegs keine Ermüdung einsetzt, findet die Fortbewegung, sei es im Auto, im Zug oder im Flugzeug im Sitzen statt. Das seelenruhige Sitzen auf fahrbaren Untersätzen zum Zwecke des Fortkommens ist zum Privileg der Moderne geworden. Der buchstäblich letzte Schritt, bevor endgültig Position eingenommen werden kann, wird gerade in Angriff genommen: Die mediale Ubiquität, per Funk und Kabel akustisch und optisch an jedem beliebigen Ort zu weilen, falls erwünscht, an mehreren gleichzeitig. Der taktile Kurzschluß wird eines Tages auch gelingen. Wäre dies die sehnsüchtig erwartete Versöhnung von Weg und Ziel: Reglos und anstrengungslos auf der Stelle hocken, um welchem Ort oder Ereignis auch immer beizuwohnen?

Sensorisch betrachtet, bestimmt ein Vergnügen. Doch es bleibt dabei, daß der Mensch ein wenig mehr ist als ein rezeptiver Automat, dem nur die passenden Reize zugeführt werden müssen, um sich wohl zu befinden. Die Sitzenbleiber von heute lehren schon jetzt: sie sind verstummt und arg herabgemindert! Erstaunlich wortkarg in der ewigen Gegenwart festsitzend scheint es, als ginge nichts in ihnen vor, dem noch Ausdruck verliehen werden müßte. Der Eindruck täuscht. Es rumort beträchtlich. Doch was da rumort ist etwas peinlich und enttäuscht die Erwartungen: Das Wohlbefinden will nicht recht befriedigen. Man befindet sich wieder am Ausgangspunkt. Das sollte eigentlich vermieden werden, daß der Kreis sich schließt, den man voller Selbstbewußtsein glaubte übersprungen zu haben.

Vergnüglichkeit ohne Erkenntnis ist wenig sättigend. Das Defizit bringt es an den Tag. Umgekehrt wird ein Genuß daraus: nur Erkenntnis macht vergnüglich. Den richtungstreuen Sitzenbleibern dämmert der Gedanke erst spät auf ihrer ballistischen Lebensbahn. Die plauderhaften Rumläufer hatten den Bogen schon nach der dritten Runde heraus. Erheben wir uns also aus den Sitzen und nehmen die Einladung an. Tauchen wir ein in den Strudel endloser Gespräche, und entreißen den Rumläufern die Erkenntnis, die auch jene nicht allein für sich gepachtet haben.

 

Kontakt: Conrad Schwill
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Der Körper als Mißverständnis des Leibes

Von Dr. Xaver Kniebiss, Sforzbruck

1. Körperkult

Wer durch Deutschlands Straßen geht, könnte denken, der menschliche Körper habe Konjunktur: Männliche und weibliche Ideal-Bodies in heroischer Riefenstahl-Ästhetik werben auf Plakaten überlebensgroß für ein bekanntes Eaux de toilette. In Magazinen werden junge Mädchen auf das Schlankheitsideal drogensüchtiger Models eingeschworen. Magazine wie Fit for fun predigen ihrer Anhängerschaft eine Fitness- und Wellness-Welle nach der anderen. Im Dienst des körperlichen Heils knechten sich täglich Millionen Deutscher in Fitnessstudios an Foltermaschinen nicht unähnlichen Gerätschaften.

Und wenn der Mensch mal nicht mehr ist, dann dient auch noch seine sterbliche Hülle als Manipulationsmasse postmortaler Stilisierungslust: In Mannheim, Köln und Oberhausen war die Ausstellung eines medizinischen Pathologen aus Heidelberg zu bestaunen, der plastinierte Leichen in stilisierten Posen zur Schau stellt. Gunter Hagens, der Ausstellungsmacher, will die Menschen damit zu mehr Körperbewußtsein aufrütteln - sagt er.

Die Kehrseiten dieser narzißtischen Körperfixierung sind gleichfalls zu besichtigen: Freßsucht, Eßstörungen, Bulimie, Magersucht. Der Mensch ist, was er ißt, sagt ein altes Sprichwort: Schätzungsweise eine Million Frauen leiden allein in Deutschland an Essstörungen - davon 400000 an krankhafter Ess-Brech-Sucht Bulimie, 130000 an Magersucht, der schwersten Form der Essstörungen - Tendenz steigend. Es darf vermutet werden, dass die Dunkelziffer noch viel höher liegt. Inzwischen sind auch immer mehr Männer betroffen. Wissenschaftler schätzen, dass in Deutschland 83000 Männer ein gestörtes Verhältnis zum Essen haben.

Laut einer im Frühjahr letzten Jahres veröffentlichten Studie der "Britischen Medizinischen Gesellschaft" seien "unnatürlich dünne Frauen" auf dem Laufsteg einer der Hauptgründe für Essstörungen junger Frauen. Der Ärzteverband forderte die Medien deshalb schon auf, mehr Frauen mit "realistischen Körpermaßen" zu zeigen. Auch die meisten Schauspielerinnen in Fernsehserien seien unnatürlich dünn. Sie hätten, dem Bericht zufolge, einen Fettanteil von schätzungsweise zehn bis 15 Prozent, während es bei einer gesunden britischen Frau im Durchschnitt 22 bis 26 Prozent sind.

Der menschliche Körper - visuell omnipräsente, öffentlich ausgestellte Manipulationsmasse, Stilisierungs- und Leidensobjekt, allzeit käufliche Ware und dennoch - oder gerade deshalb - uns immer ferner? Tatsächlich will es so scheinen, als lebten viele Menschen - bezogen auf ihr körperliches Bei-sich-Sein - im paradoxen Zustand einer fremden Nähe und nahen Fremde , wie es die Philosophen der Leiblichkeit immer wieder formuliert haben.

Wenn also die Beispiele zu Beginn dieses Beitrags zeigten, dass wir heute in einem Zeitalter einer sich besonders stilisierenden Körperlichkeit leben, dann kann man ebenso sagen: Wir leben in einem Zeitalter verschütteter Leiblichkeit. Das, was frühere Zeitalter mit Recht einen Leib nannten - "begeistetes Fleisch" , wie es der Philosoph Felix Hammer einmal ausdrückte - verbirgt sich heute unter einer Unzahl von Körperbildern, die bei Bedarf gewechselt werden wie Abziehbilder. Unter dem Druck von Körperbildern, die oft mit gesellschaftlichen Leistungserwartungen einher gehen, haben die Menschen in den zivilisierten Ländern oft den Zugang zum tieferen Selbst ihres Leibes verloren.

2. Körper und Kolonisierung

Ausgangspunkt dieser Not ist die Trennung von Geist und Körper, wie sie auch der westlichen Medizin zugrunde liegt. Am Beispiel von Descartes "Ego cogito" lässt sich sehr anschaulich das Motiv zeigen, aus dem heraus der Leib zugunsten bestimmter Körperbilder "sterben" musste: Macht. Liest man Descartes "Methode des richtigen Vernunftsgebrauchs" und seine "Meditationen über die Grundlagen der Philosophie" aufmerksam, so wird vor allem eines als Grundton erkennbar: Der Weg zum Quell sicherer Erkenntnis und zum wahren Ich ist bei Descartes, radikal wie bei keinem seiner zahlreichen Vordenker, Selbstbemächtigung mit den Mitteln der universalen Gesetze von Geometrie und Mathematik: Der Mensch habe sich zunächst einmal zu einem Körper zu geometrisieren, um zur Habe seines wahren Selbst vorzustoßen - so lautet die zentrale Botschaft Descartes ("Cogito ergo sum": Ich denke, also bin ich). Descartes liefert damit gleichsam das Grundmuster eines neuzeitlichen, mikropolitischen Herrschaftsmodells: Intellektuelle Selbstbemächtigung als wahre Seinsqualität eines autonomen Subjektseins . Die Voraussetzung dieser Selbsthabe ist die Herrschaft des denkenden - besser kalkulierenden - Selbst über seinen Körper. Um der Sicherheit abstrakter Erkenntnis willen gibt Descartes die Ganzheit des Wahrnehmungsleibes zugunsten eines Denkkörpers auf. Der Preis, den er dafür zahlt, ist freilich hoch: Mit der Tötung des "begeisterten Fleisches" schneidet Descartes - zumindest theoretisch - den Zugang zu jenen Quellen ab, die sich nicht in das Erkenntnismodell wissenschaftlich-positivistischer Wahrheitsgewinnung einpassen lassen.

Das von seiner vitalen und sinnlichen Grundlage isolierte Selbst birgt den Keim zu allerlei Pathologien. Denn wo sich der Leib gegen die Gewalt seiner Marginalisierung sperrt, wird sein Aufstand als zu brechendes Hindernis oder subtiles Täuschungsmanöver aufgefaßt, dass es mit noch größerer Gedankenanstrengung aus dem Weg zu räumen , bzw. zu demaskieren gilt. Descartes ähnelt darin in gewissem Sinne einem Kolonisator, der sich seinen Weg mit Feuer, Schwert und Schlimmerem durch fremde Erdteile bahnt. Nur mit dem Unterschied, dass es sich bei diesem zu brechenden Fremdland in Wahrheit um das Nahe und Nächste seines Selbst handelt: Seinen Leib. Viel später wird Paul Virilio über diese Art eines kolonialistischen Zugriffs auf den menschlichen Körper schreiben, bei der modernen Körperkolonisierung über Künstliche Intelligenz und Biotechnik handele es sich um den Abschluß eines geophysikalischen Eroberungsstrebens: "Nachdem die Entwicklung der (...) technischen Wissenschaften schon seit langem zur exzentrischen Kolonisierung der geographischen Ausdehnung des territorialen Körpers wie der geologischen Dichte der Erde beigetragen hat, führt die jüngste Entwicklung in diesen Bereichen jetzt zu einer fortschreitenden Kolonisierung der Organe und Eingeweide des menschlichen Körpers, wobei die Invasion der Mikrophysik diejenige der Geophysik zum Abschluß bringt. Es handelt sich um die letzte politische Form einer Domestizierung, mit der jetzt - als Fortführung der genetischen Manipulation der Tiergattungen und der Dienstbarmachung der sozialen Verhaltensweisen des Menschen - das Zeitalter der verinnerlichten Komponenten anbricht".

Wenn Rudolph zur Lippe heute feststellt, "die Herrschaft des Menschen über die Natur wurde zu allererst am menschlichen Leib ausgeübt" , dann deutet sich darin gleichsam auch die globale Dimension dieser anfänglichen Selbstunterwerfung an. Ausdrücklich gilt es dabei mit Blick auf die Arbeiten von Michel Foucault festzuhalten, dass die Gewalt, die in der cartesianischen Selbstunterwerfung unter die Gesetz von Mathematik und Geometrie und die Geometrisierung der Sinne selbst zum Ausdruck kommt, alles andere als eine Art "Privatproblem" ist. Der kolonialistische Stil, in dem der Homo cartesiensis seine Innenwelt in Verfügung nimmt und radikal umgestaltet, spiegelt sich auch in einem veränderten Verhältnis zu seiner Außenwelt wieder - bzw. in der Art seines verfügenden Weltzuganges. Es ist kein Zufall, dass der sich systematisch selbst geometrisierende Mensch auch die ihn umgebende Welt nach dem gleichen Muster zu geometrisieren sucht - also ebenfalls in den Modus einer möglichst totalen Habe zu überführen trachtet - oder einen solchen Modus zumindest als wünschenswert erachtet. Die Folge ist ein absurde Züge annehmender Kontrollfetechismus nach Innen und nach Außen.

Vordenker wie Descartes oder Bacon haben mit ihren Überlegungen die Schneise geschlagen, durch die der Körper als Verfügungsobjekt des Ich immer besser in Besitz genommen werden konnte - sowohl von seiner inneren wie auch äußeren Natur her. Aus den Ansprüchen einer Leistungsgesellschaft, in der der Körper zuletzt nur noch als produktive Maschine auftaucht, leiten sich auch bestimmte Körperbilder ab. In der Leistungsgesellschaft wird der Körper, wie im Mittelalter das Stigmata des Heiligen, als Ikone der eigenen Leistungsbereitschaft eingesetzt. Und wie im Mittelalter der Heilige an seinen Stigmen erkannt und wegen ihr verehrt wurde, so hat die moderne Gesellschaft gelernt, den fitten, gestählten Körper à la Arnold Schwarzenegger bewundernd und neidvoll als Ausdruck von Vitalität zu dechiffrieren. Wie eine Monstranz tragen die "Besitzer" solcher Körper diesen durch die Welt. Nur ein fitter Körper ist ein Statussymbol.

Die Herstellung des Selbst wird in der Leistungsgesellschaft über sich internalisierende Funktionserwartungen und Leistungsnormen mehr und mehr zu einem industriellen Prozess. Der Homo faber entdeckt sich besonders im Zeitalter von Gen-, Biotechnik und so genannter Künstlicher Intelligenz als Werkzeug seiner selbst. Je mehr er in seinem Alltag mit Technologien konfrontiert wird, die als irdischen Erlösungsweg eine Erweiterung seiner Autonomie versprechen, um so mehr gewinnt er auch zu seinem Selbst, zu seiner Mitwelt und Lebenswelt ein instrumentelles Verhältnis. Dieses, vor allem Sicherheit und Orientierung verheißende, instrumentelle Selbstverhältnis, füllt zunehmend die Leerstelle, welche seit dem Zusammenbruch und der Dekonstruktion älterer metaphysischer Ordnungen und Orientierungen im Menschen schmerzhaft klafft. Jener nackte Biologismus, Evolutionismus, Physikalismus und Informationismus, der den Aufstieg der Selfmade-Men und -women ideologisch begleitet, verschafft den entscheidenden Standortvorteil im Wettbewerb um das autonomste Selbst: Sicherheit, Klarheit, Struktur.

Zur effizienten Herstellung dieses Selbst muß vor allem der Körper innerlich und äußerlich so lange verbogen werden, bis er "paßt." Das Problem dabei ist nur: Der menschliche Körper ist kein eben mal so verfügbares Ding unter Dingen. Der Mensch ist kein "Gemachter", sondern ein Geborener, betont Günter Anders - und ein stets noch werdender. Als ein solcher Geborener hat er keine wirkliche Alternative: Wenn ihm der eigene Körper nicht mehr gefällt, kann es sich - trotz aller Transplantationsmedizin - schlecht einen neuen kaufen, in dem es sich wohler fühlte.

3. Optimierungsvisionen und neue Technologien

Hier lichtet sich die tiefere Bedeutung einer Diskussion um eine Optimierung des Menschen, wie sie vor allem mit Hingabe im Umfeld von Gentechnik und so genannter Künstlicher Intelligenz geführt wird. Wenn wir erst einen besseren, maschinenartigeren Körper hätten, so läßt sich etwa der KI-Forscher Marvin Minski vernehmen, dann müßten wir uns nicht mehr mit unserer Zwitternatur, halb Mensch, halb Tier herumschlagen . Ein solcher Körper würde uns entlasten von dem steten existenziellen Ringen, weil wir mit ihm immer schon die Besten wären, so das Versprechen. Auch im Bereich der Biotechnologien werden solche Erlösungsvisionen laut: Ist die absolute Gesundheit genetisch codierbar? Können wir ewig leben?

Wer solche "Visionen" vorschnell in den Bereich von Science-Fiction schiebt, übersieht, dass sie Ergebnis Jahrtausender alter, realer Sehnsüchte sind, die sich tief in den abendländischen Menschen verwurzelt haben - vor allem die Sehnsucht auf Vollendung im Diesseits. Und nicht erst im Jenseits, wenn ich mir selbst schon nicht mehr gegeben bin, wenn ich keinen Einfluß mehr nehmen kann. Im Mittelpunkt steht die Überwindung von Krankheit und Tod, jenen letzten Schwellen, die das narzißtische, leistungsbewußte Selbst wegen der damit verbundenen Unverfügbarkeit am meisten fürchtet.

Kontakt über: Sinnsuchen.de
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Phantasie und Kreativität - der Philosoph Vico

Von Wilhelm Fink, Hamburg

Die Entstehungsbedingungen des kreativen Textes? Sie sind rätselhaft. Dieses Rätsel findet sich im Großen wieder, - in der Menschheitsgeschichte. Die Entstehung der Sprache, des Denkens, der sozialen Strukturen, des Rechts, - hier bietet Giambattista Vico (1668-1744) Erklärungen an. Sie sind ungewöhnlich und aktuell. Eine Einführung bietet Jürgen Trabant, "Neue Wissenschaft von alten Zeichen: Vicos Sematologie" (Suhrkamp Taschenbuch).

Für Schreibende liefert Vico quasi einen Schlüssel. Bei ihm hat die Phantasie fundamentale Bedeutung. Sie hat, wie er sagt, unsere Welt hervorgebracht. Eine an Descartes orientierte Wissenschaft, die in rationaler Beschränkung verharrt, ist nicht befähigt, für uns die Welt zur Gänze zu erfassen. Sie kann es schon deshalb nicht, weil die Welt (nach Vico) das Ergebnis der menschlichen Imagination ist. Diese Imagination hat realitätsbildende Kraft.

Der Leser habe die Wissenschaft sich selber zu erzählen, heißt es bei Vico. Seine NEUE WISSENSCHAFT bedarf aber der Hinführung wie an einem Geländer. Hier ist ein Buch von Donald Ph. Verene (Atlanta) hilfreich. Es heißt "VICOS Wissenschaft der IMAGINATION". Verene geht z.B. auch darauf ein, wie stark James Joyce, Finnegans Wake, von Vico beeinflußt worden ist. Vico sagt geniale Dinge. "Wahrheit ist aus Illusion geboren. Man muß den Mut haben, in unaufgelösten Gegensätzen zu denken. Der Welt, so wie sie ist, ins Auge blicken."

In unserem Zeitalter ist die Erinnerung schwächlich geworden. Vico nennt sein Werk ein Schauspiel der Erinnerung. Nach Vico gibt die Erinnerung als INGEGNO den Dingen eine neue Wendung. INGEGNO ist aber gerade das, was der Schriftsteller tut. [INGEGNO = die angeborene Gabe, Erscheinungen rasch zu erkennen oder Dinge durch kreatives Tun und Eingebung selbst hervorzubringen].

Vico geht sehr weit. Die Gedächtnis-Seite der Erinnerung (MEMORIA, das einfache Vergegenwärtigte) mag nur die Spur einer erlöschenden Sinneswahrnehmung sein. Dagegen ist die eigentliche Erinnerung die Kraft, die den Wissenden zurückträgt auf das Erlebnisfeld der Sinnlichkeit. Damit betritt das Bewußtsein erneut den Raum der Sinnlichkeit und hat Anteil an den Form-, Gestalt- und Struktur-Energien der Sinnlichkeit.

Die Menschen haben einst nicht versucht, sich einem Objekt anzunähern, indem sie "von außen" etwas hereinholten und es sich vorstellten. Nein, sie haben die Gabe der FANTASIA gehabt, nämlich von innen heraus zu wissen. FANTASIA erfaßt das Objekt in seiner inneren Natur. FANTASIA ist die Basis von Selbsterkenntnis. Sie erschließt uns den Weg zu uns selbst, zu den Kräften, die das Wahre erzeugen. [FANTASIA = Gabe des Geistes, reale Bilder nachzuschaffen oder irreale Bilder zu erzeugen].

Verene, immer im Flußbett Vicos unterwegs, plädiert für die Bedeutung des Bildes als einer ursprüngliche Denkform. Das Bild war einst Leitprinzip des menschlichen Sprechens und Erzählens.

Die Winke und Einsichten Vicos sind erstaunlich. Die FANTASIA weist einen Weg, wie Erfahrung strukturiert werden kann, ohne mit Kategorien zu arbeiten. Die Kategorie würde das, was in der Erzählung (Fabel, Mythos) immer zwei Bedeutungen erfährt, in einen einzigen Sinnzusammenhang verkehren. Solche Reduktion des Entgegengesetzten hat der Geist zum Ziel, wenn er sich auf den Weg eines wissenschaftlichen Verständnisses begibt. Mit diesem Ziel vor Augen verliert er aber die Bemühung um das Ganze.

Für den menschlichen Geist, bei seiner Anhänglichkeit an begriffliche Abstraktion, ist die Erinnerung ein mächtiges Korrektiv. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, sagt - "Die Illusionen des Bewußtseins müssen durch die stärkere Wahrheit des Unbewußten korrigiert werden."

Ein Ereignis (ein Geschehen) kann man als Erinnerungs-Struktur auffassen. Heutzutage ist es beliebt, Phantasterei, Imagination, Mythos "niedriger zu hängen". Sie als nicht rational, als Irrtum, Lüge, Fälschung wegschieben. Man meint, durch Phantasie und Imagination könne keineswegs eine ursprüngliche Wahrheit hervorgebracht werden. Nietzsche dagegen erkannte die Schlüsselfunktion der Phantasie. "Wir lernen, wie es die Philosophie zu allen Zeiten gemacht hat, wenn sie zu ihrem magisch anziehenden Ziele über die Hecken der Erfahrung hinweg hinüberwollte. Sie springt auf leichten Stützen voraus, - die Hoffnung und die Ahnung beflügeln ihren Fuß. Eine fremde, unlogische Macht hebt ihre Füße, die Phantasie." - Soweit Nietzsche.

Vico führt aus - Menschen empfinden zuerst das, was notwendig ist. Dann schauen sie auf das Nützliche. Danach streben sie nach Bequemlichkeit. In der Folge vergnügen sie sich am liebsten selbst mit Annehmlichkeiten, geben sich im Luxus Ausschweifungen hin, - und schließlich werden sie toll und verschleudern ihre Substanz. Diesen Zyklus sieht Vico auch bei den Völkern. Sie haben den Hang, sich selbst zugrunde zu richten, und ihre Reste fliehen zur Sicherheit in die Wüste, in der sie, wie der Phönix, neu sich erheben. Wenn jedes Ende im Leben der Menschen einen Neubeginn bedeutet, so gilt es, so zu handeln, als läge im Ursprung von Neuem mehr Wirklichkeit als im Ende.

Solche Gedanken (so Verene) eröffnen uns den Zugang zu uns selbst als Menschen. Der Einzelne muß fähig sein, seine Existenz als eine Struktur aus Geburt und Tod zu begreifen. Innerhalb der beiden realen Grenzpunkte (Geburt und Tod) kann der Mensch für seine Existenz die Brücke der Erinnerung wölben. Die Erinnerung ist die Kraft des Menschen, sich erinnernd selbst als ein partikulares Universale zu begreifen.

Schreibende erleben oft, dass ihre Arbeit, das Erfinden, Fabulieren, genau so belächelt, verdächtigt, niedrig gehängt wird wie allgemein der Mythos, die Phantasie.

Ich zitiere. DIE WIRKSAMSTE METHODE DES ERINNERNS IST DAS SCHREIBEN. Dies sagte Christa Wolf. Sie war wegen des bloßen Besitzes von Phantasie das Ziel anklägerischer Angriffe des DDR-Staates. Ich schließe mit Verene-Vico. Der Mensch kann, anders als das Tier, lachen. Er kann sich aus der Unmittelbarkeit der sinnlichen Wahrnehmung, in die das Tier eingebunden bleibt, lösen. Der Mensch ist ein Zeichen.

Kontakt: Wilhelm Fink
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Karneval im Cyberspace

Von Dr. Olaf Kaltenborn, Bochum

Dass Karneval und Cyberspace bedeutende kultursoziologische Gemeinsamkeiten aufweisen, ist ein bisher noch viel zu wenig gewürdigter Umstand der Kulturhistorie. Zugespitzt lässt sich sagen: Während die fünfte Jahreszeit an Rhein, Ruhr und anderswo nur wenige Tage dauert, ist im Internet das ganze Jahr Fasching - wenn man darunter das sich wiederholende, ritualisierte Spiel mit Masken und Identitäten versteht.

Auch andere Überschneidungen ergeben sich: Carne vale - Fleisch leb wohl!, riefen schon die Lateiner im Angesicht der bevorstehenden Fastenzeit - letzte Gelegenheit, noch einmal "richtig die Sau rauszulassen", sich dionysischen Räuschen und orgiastischen Ausschweifungen hinzugeben, bevor der Gürtel wieder enger geschnallt werden musste.

Carne vale - Fleisch leb wohl: Die Internetgeneration hat aus Scheu vor dem eigenen und dem fremden Körper und ganz ohne christliches Verzichtsgebot inzwischen verlernt, ohne technische oder bewusstseinsverstärkende Hilfsmittel "die Sau rauszulassen". Die Übung der Fleisch- bzw. Leibüberwindung dominiert den Cyberspace. Wenn auch in einem wohl viel grundlegenderen Sinne als in der christlichen Fastenzeit: Erfolgt doch der im Cyberspace ermöglichte Wechsel der Identität in einem Raum, der vermeintlich jenseits der eigenen Leiblichkeit mit all ihren scheinbaren und tatsächlichen Begrenzungen liegt. Nicht erst in der so genannten virtuellen Realität mit ihren künstlich gestalteten neuen "Welten", sondern schon in einfachen Chatrooms ist vieles machbar: Wechsel des Geschlechts (um sich beispielsweise als Mann in einen Frauen-Chat einzuschleichen und dort als "Maulwurf" mitzumischen), Wechsel von Werthaltungen und Einstellungen bei politischen Debatten, Ausmalung einer völlig neuen Persönlichkeitsstruktur usw.

Was steht dahinter? Wie der Narr auch deshalb Narr ist, weil er seine Maske bei Bedarf virtuos wechseln kann, wird vom echten Netzaktivisten, noch in Überbietung der karnevalesken Praxis, nichts weniger als ein ubiquitäres Netz-Ich angestrebt; ein Selbst, das nicht mehr in einem Ich-Kern seine Bestimmung findet, sondern in einer möglichst großen Zahl von Rollen, die es sich je nach Kommunikationssituation passgerecht überstülpen kann: "Ich bin Viele", sagt die Netzaktivistin Sherry Turkle. Das eignet sich gut als Leitsatz über dem bunten Reigen von Ich-Folien, unter denen sich täglich viele Millionen ins Netz schleichen. Auch der Satz Lacans "Ich ist ein Anderer" macht Sinn. Denn im Internet scheint Ich tatsächlich zum Herren seiner Identität(en) werden zu können. Verschiedene Alter-Egos könnten sich endlich "ausleben", die in der realen Welt womöglich zu kurz kommen, neue Wunsch-Ichs können sogar entstehen. Und keiner kann mehr überprüfen, ob einer nun Richard Gere ist oder ihn nur imitiert. Verwirklicht also gerade die "Internetgemeinde" endlich jene phänomenologische Grundeinsicht, wonach wir die Grenzen des Selbst nicht an der Grenze unserer Haut enden lassen können bzw. dass Andere und Anderes immer schon in uns wirkt und waltet, bevor wir überhaupt Ich sagen können? Dass wir also letztlich unfähig sind anzugeben, was nun zum Kernbestand unseres Ich gehört und was nicht mehr.

Wenn das Fremde immer schon in uns wirkt, warum ihm dann nicht auch via Neue Medien Stimme und Möglichkeit verleihen? Warum also nicht Maskerade treiben, sich selbst zum Narren machen, mit den Folien seiner eigenen Identitäten spielen? Solche Fragen werden seit Jahren immer wieder anlässlich medienwissenschaftlicher Foren gestellt, wo Netzaktivisten dem staunenden Publikum dann von den unbegrenzten Möglichkeiten und Erlebnissen ihren Netzreisen berichten wie einst Jules Verne in seinem Roman In achtzig Tagen um die Welt. Heute müsste man den Titel wohl ein wenig variieren: In achtzig Tagen um das eigene Ich - und immer noch kein Land in Sicht.

Dennoch werden solche Fragen oft mit einem erstaunlichen Optimismus beantwortet, ganz so, als breche mit den Möglichkeiten dieser technischen Ich-Erweiterung endlich das Zeitalter absoluter personaler Freiheit in einer globalisierten Kultur voller Toleranz und Harmonie an. Deshalb besteht Anlass zu der Frage: Meinen Phänomenologie und Netzaktivisten tatsächlich das Gleiche, wenn sie von der Flüssigkeit ihres Selbst sprechen?Die Antwort darauf ist ein deutliches Nein: So sehr sich die Phänomene an der Oberfläche gleichen, so sehr die Netzaktivisten als praktische Vollstrecker einer phänomenologischen Philosophie erscheinen mögen, so sehr gibt es gravierende Unterschiede in der Tiefenstruktur.

Zunächst einmal: Gerade jener gute Geist einer völkerverständigenden, globalen Toleranz, die diese Art von elektronischem Meinungsaustausch vermeintlich durchwaltet, ist Maskerade. Denn gerade Internet als Primärmedium des Meinungsaustausches erscheint wenig geeignet, das Fremde besser verstehen zu lernen, bzw. Formen einzuüben, besser mit ihm umgehen zu können. Warum? Weil gerade der Cyberspace die Illusion vermittelt, die Auseinandersetzung mit dem Fremden könne ohne die Widerständigkeit einer realen leiblichen Erfahrung geschehen oder sogar technisch vermittelt organisiert werden. Eine gefährliche, eine trügerische Illusion. Liegt dem doch die Vorstellung zugrunde, es gäbe eine Begegnung mit dem Anderen ohne ein gleichzeitiges Fremdwerden des Selbst im Prozess dieses Begegnens. Zumindest in der realen Begegnung ist dieses Fremdwerden nicht antizipierbar, planbar, steuerbar. Wo, wie und wann uns das Fremde trifft, darüber sind wir nicht Herr. Deshalb kann der Fremdbezug als Selbstentzug auch schmerzlich sein. Und gerade um diese Erfahrung des schmerzlichen Entzugs in einer Zurückweisung, einer Zurechtweisung, einer gescheiterten Verständigung, einer Empfindung der eigenen Unzulänglichkeit drücken sich viele Netzflüchtlinge herum. Sie suchen den Cyberspace auf, um sich selbst nicht noch fremder werden zu müssen, als sie es ohnehin schon sind. Sie wollen - um jeden Preis - Herr ihrer Ich-Folien bleiben, die sie von sich in die Welt hinaus schicken. Wenn sie also das Fremde im Cyberspace suchen, dann häufig nur als Projektionsfolie ihres Selbst oder als maskenreiche Bemäntelung einer gewissen Welt-Schüchternheit und Berührungsnot.

Ansatzweise wird diese Erfahrungsscheu und Weltschüchternheit deutlich in Sherry Turkles Buch Leben im Netz (Sherry Turkle: Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Hamburg 1998) Die Autorin vertritt darin die Ansicht: "Das wirkliche Leben ist nur ein zusätzliches Fenster zur Welt, und es ist nicht unbedingt mein bestes." (62) Warum ist das reale Leben nicht unbedingt ihr bestes Fenster? Weil, so antwortet Turkle, "jeder von uns auf seine eigene Weise unvollkommen ist [...]. Virtuelle Räume geben uns die nötige Sicherheit, um unsere Unzulänglichkeit zu enthüllen, so daß wir damit beginnen können, uns als diejenigen anzunehmen, die wir nun einmal sind." (Zit. nach Stefan Becht: "Das virtuelle Ich - Sherry Turkle preist das Internet als Mittel zur Identitätsfindung", in: Die Zeit, Nr. 16 (1998), CD-ROM-Recherche, o. S.) Die Faszination der verteilten Identität im Cyberspace resultiert daraus, dass die Akteure nach Belieben als Designer und Schöpfer ihrer eigenen Identität auftreten, einer Identität, die ihnen im realen Leben nicht abgenommen würde. Katie Argyle, die ihre Erfahrungen im Umgang mit Netzidentitäten in einem Aufsatz "Is there a body in the Net?" beschreibt: "[...] I could not resist using the cover to heighten aspects of myself that I thought a bit inappropriate in person." (Katie Argyle: "Is there a body in the Net?", in: Rob Shields (Hg.): Cultures of the Internet, London, Thousend Oaks, New Delhi 1996, S. 59.)Erst in der Erhöhung jener Aspekte, die ihr im normalen Leben wie Hochstapelei vorgekommen wären, fühlte sich Argyle "true to my real self via the electronic persona I was projecting"(ebd). Es ist also Sehnsucht nach Anerkennung im Spiel. Wohlgemerkt: Anerkennung als ein anderer als der, für den man sich eigentlich hält. Und so will es scheinen, als spiele sich hier eine gewaltige Köpenickiade ab von Ich-Flüchtigen und Ich-Spielern: Einmal Frau sein können, ohne dass einen der männliche Körper sofort verrät. Einmal den Mächtigen, Unverletzlichen spielen können, ohne dass einem beim Auftritt die Stimme versagt und alle anfangen zu lachen. Oder der Farbige, der sich im Netz keiner Diskriminierung wegen seiner Hautfarbe ausgesetzt fühlt. Oder der Behinderte, der sich in seiner Newsgroup ohne das Stigma seiner Behinderung endlich als ganzer Mensch angenommen fühlt.

Im Netz seien alle gleich, so hört man es häufig aus der "Netzgemeinde", und frei. Katie Argyle schreibt über diese Freiheit: "Online I was myself, pseudonym Kitty, and could have easily presented myself as one or several other fantazised personae. Many people trust this ‚other' that I gave them of myself, and they revealed parts of themselves to me in turn."(ebd.)

Doch die Cyber-Aktivistin Gloria Mark entzaubert diesen Mythos von der Gleichheit und Freiheit im Netz gleich wieder, indem sie betont, dass gerade im Netz jeder seine Idealfigur zeigen wolle; jene zu kurz gekommenen, nicht ausgelebten Ideale der realen Welt offenbarten sich hier wie unter einem Brennglas: "To what extend do we project our own bodies into a virtual world? Conventions and standards oft bodies in the real world ar too often carried over into virtual environments: the beauty myth is manifest in descriptions of bodies as sexy and beautiful; similary many examples of virtual characters represented as strong and powerful bodies also exist." (Gloria Mark, in: Rob Shields (Hg.): Cultures of the Internet, London, Thousend Oaks, New Delhi 1996, S. 16)

Eine Freiheit gibt es indes wirklich. Es ist die Freiheit von den Widerständen und der Überwindung, die eine echte Köpenickiade im realen Leben kosten würde. (Geert Lovink und Pit Schultz erklären diese Flucht vor der Widerständigkeit aus der "globalen Herrschaft der Null-Risiko-Ideologie" im Zeichen des Cyberspace (Geert Lovink / Pit Schultz: "Anmerkungen zur Netzkritik", in: Stefan Münker / Alexander Roesler (Hg.): Mythos Internet, Frankfurt/Main 1997, S. 357). Vor allem aber sind sie frei vom verräterischen Leib, von einem Leib, der im realen Umgang ständig Zeugnis ablegt, ob man es nun will oder nicht, über den Zustand und die Befindlichkeit der korporierten Person. (Zur Problematik der Leiblichkeit im Technikumgang vgl. Kaltenborn, Olaf; Mettler-v. Meibom, Barbara (1996): Der Verlust des menschlichen Maßes - Die Agonie des Leiblichen in der Informationsgesellschaft. In: Das Parlament, Nr. 33-34, 18,Kaltenborn, Olaf (2001): Das Künstliche Leben - Die Grundlagen der Dritten Kultur, München.)Der eigene Leib in seiner ganzen Schutzbedürftigkeit, Empfindsamkeit und Fragilität ist daher dringend verdächtig. Er ist verdächtig eines Überschusses des Selbst, eines Überschusses, der nicht einholbar und durch Techniken der Selbstkontrolle nur begrenzt hintergehbar ist. Und er ist verdächtig, dieses Mehr immer im unpassendsten Moment zu zeigen, eben dann, wenn man sich gerade das kontrollierte Ich wünschte, das sich je nach Belieben und Situation in dieses oder jenes verwandeln könnte. Dies ist die Widerständigkeit der leiblichen Existenz, dass wir nicht nur mit manchen Mängeln zu kämpfen haben, sondern überdies auch noch mit einem Überschuss an Bedeutung zurechtkommen müssen, für den es oft keine vernünftige Erklärung und keine Planung gibt. Der Leib schäumt gleichsam über. Und in diesem überschäumenden leiblichen Selbst verwandelt sich der Mensch unter dem abschätzenden, erwartenden, fordernden, lauernden Blick der anderen in einen Fremden, einen, mit dem er am Ende nicht mehr auf Du sein will. Wie leicht scheint dagegen der Einstieg ins Netz: Jedenfalls gehört kein Mut, keine Überwindung zu einem Schritt in die virtuelle Welt. Das ist die eigentliche Attraktion dieser chamäleonesken Verwandlungen, wie sie Turkle als Therapie des überreizten und narzisstischen Ich anpreist. Sie kosten nichts außer Lebenszeit und Leitungsgebühren. Sie finden in dem geschützten Reservat einer leibgereinigten Teilanonymität statt, aus der sich jeder nach Belieben wieder zurückziehen kann, wenn er befürchten muss, zu viel von sich preiszugeben. Wenn Netzidentitäten und Realidentität zu einem Sozial-Amalgam verschmelzen, besteht die Gefahr, das reale Leben und die in ihm vorkommenden "widerständigen" Sozialverhältnisse fortan nur noch über die Elle jener Widerstandslosigkeit zu messen, mit der hier zwar Verwandlungen mühelos gelingen, dort jedoch, wenn überhaupt, nur unter großen Mühen. Bill Gates, der mächtige Beherrscher des Microsoft-Imperiums, liefert hierfür ein anschauliches persönliches Beispiel: "Ich war mal mit einer Frau befreundet, die in einer anderen Stadt lebte. Wir haben uns oft per E-Mail unterhalten. Schließlich fanden wir eine Möglichkeit, zusammen ins Kino zu gehen. Wir suchten einen Film aus, der zu gleichen Zeiten in beiden Städten spielte. Dann fuhren wir ins Kino, jeder in seins und plauderten per Handy miteinander. In Zukunft werden solche ‚virtuellen Rendezvous' konkretere Formen annehmen", prophezeit Gates. (Bil Gates, zit. nach Claus Eurich: Mythos Multimedia. Über die Macht der neuen Technik, München 1998, S. 155.)

Eine Therapie, wie sie Turkle vorschlägt, kann indes nur so lange eine gute Therapie genannt werden, wie der Fluchtpunkt und Schutzraum nicht schon zum eigentlichen Selbstzweck und Lebenssinn geworden sind. Sonst könnten sich die Schutz- und Spielräume der virtuellen Identitäten schnell als potemkinsche Dörfer erweisen, reine "Spielbedeutungen" (Bernhard Waldenfels (Hg.): Edmund Husserl: Arbeit an den Phänomenen, Frankfurt/Main 1993, S. 26 ff.) nämlich, in denen das gebrechliche Selbst sich endgültig verliert. In den USA hat man die Online-Sucht, Pathological Internet Use (PIU), bereits erforscht. Claudia, Mitte 30, aus Berlin beschreibt die Strukturen dieser Sucht aus eigener Erfahrung so: "Als ich keinen Freund hatte und keinen Spaß im Job, habe ich das Chatten sehr intensiv betrieben, aus einer Form der Unzufriedenheit heraus. Ich habe mich manchmal definitiv an der Suchtgrenze gesehen. Anders kann man es nicht nennen [...]. Letztlich ist man aber doch wieder nur einsam und unzufrieden - denn irgendwie ist es nicht so richtig zu greifen, so wie das wirkliche Leben". Ein Zeichen der Online-Sucht ist, ähnlich wie bei der Spielsucht, "daß reale Vorhaben immer wieder über den Haufen geworfen werden, um Zeit zu haben für die virtuelle Welt" (Manuela Ludwig: "Liebe per Mausklick", in: Der Tagesspiegel, 19. Oktober 1998, S. 3.).

Nicht ohne Grund wird das Bedürfnis, sich im Cyberspace in fraktalen Identitäten zu verlieren, von Psychologen immer wieder als schizoides Symptom gedeutet. Gloria Mark fragt sich denn auch ein wenig ängstlich und zweifelnd über den Ausgang dieses Experiments: "Will these new experiences push our awareness of our body further into the background, will we feel completely disembodied, or will we be able to bring these bodily movement experiences back into our physical worlds [...]?"(Gloria Mark, in: Rob Shields (Hg.): Cultures of the Internet, London, Thousend Oaks, New Delhi 1996, S. 16)

Die Aussicht, auch hier nicht als selbstbewusster Narr, sondern als trauriger Clown zu enden, sind also letzten Endes nicht gering.

Kontakt: Dr. Olaf Kaltenborn
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Formen der Zeitwahrnehmung

Von Dietmar Fritze, Hattingen

"Mancher wird nur deshalb kein Denker, weil sein Gedächtnis zu gut ist..." spöttelt Nietzsche. Zeit kann in der Tat zum Mühlstein um den Hals werden, wenn sich die Bürde der Vergangenheit ständig ins Bewußtsein drängt. Deswegen ist es sehr sinnvoll, Zeit auch zu verstehen als etwas, das uns wie ein Füllhorn zum frischen Gebrauch jeden Morgen auf die Bettdecke in die Nähe der Hände geschüttet wird - soll bedeuten: Es ist wichtig, Zeit nicht wie ein zum Tode Verurteilter schier passiv abzusitzen, sondern sie völlig gegenteilig sehr aktiv als ein zu formendes Material anzusehen, das erlaubt, unsere Wünsche, Ziele, Selbstvorstellungen hineinzutöpfern, auf eine Leinwand zu werfen, auf Filmmaterial zu bannen, auf Papier oder einfach in den Tag zu kritzeln. Wenn man Zeit aktiv erlebt wie eine täglich neue Chance, sich Profil zu verleihen und nicht wie einen Bumerang, der einen hinterrücks am Schädel trifft - dann ist man einen wichtigen Schritt voran. Nun ist bekannt, dass Zeitwahrnehmung nicht nur gekennzeichnet ist durch den erstarrten Blick nach hinten oder den spannungsvollen nach Vorne - sondern Zeit wird auch entweder mit Hektik oder mit quälender Langeweile in Verbindung gebracht: durch die Brille der Geschwindigkeit, des Tempos oder des Kriechganges empfunden. Der bekannte Schriftsteller Günter Grass bemerkte: "Ich schlage vor, in allen Schulen einen Kurs zur "Erlernung der Langsamkeit" einzuführen. Von mir aus darf es sogar ein Leistungskurs sein: Die bewußte Verzögerung, das Erlernen des Innehaltens..." und der Zeitforscher Karlheinz Geißler formuliert: "Es geht nicht um eine optimale Nutzung der Zeit, sondern um die Entwicklung von Fähigkeiten, Eigenzeiten wahrzunehmen..." Zur Verdeutlichung: Unter Fremdbestimmung verstand man stets die Zeit, durch welche man als Sklave mit den Zielen Fremder erbarmungslos hindurchgepeitscht wurde. Unter Geißler´s "Eigenzeit" wäre wohl zu verstehen, was eindeutig der selbstbewußten Entfaltung innerer Möglichkeiten entspricht - ohne eine von außen aufgezwungene Hektik. Dies wäre durchaus eine Wohltat für die SchülerInnen unserer Tage - sicherlich aber auch für die LehrerInnen und Eltern - schlichtweg für alle Menschen. Wenn berufliche Strukturierungen dergleichen allzu höhnisch übersehen, wird es immer mehr Ausfälle im Schaffensprozess geben; das heißt: inhumane Arbeitsplatz-Situationen sind nur eine zeitlang profitabel, bei steigendem Krankenstand sind sie es mitnichten. Das Reflektieren der Zeit als Zerstörungsfaktor oder produktiver, Glück bringender Moment: ein solcher innehaltender Besinnungsprozess scheint in allen Bereichen eigentlich unumgänglich. Seltsam: das Verharren an diesem Punkt wäre kein unproduktives Stocken, sondern die Chance zu einer bewußter und effektiver wahrgenommenen Zeit - ähnlich jenem Augenblick, den jeder (hoffentlich) kennt: Man betritt einen Strand und sieht vor sich eine endlos zu beschreitende, helle Weite. Dringend therapiebedürftig, wer in einer solchen Sekunde nicht zugleich mit seinem Hund zum explosiven, fröhlichen Loslaufen sich gedrängt fühlt, sondern, wie wohl phasenweise der eingangs erwähnte Nietzsche, vom Gedächtnis zermalmt nicht ins gestaltende Denken hineinfindet...

Kontakt: Dietmar Fritze
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